Cornelia Lönne

Cornelia Lönne

WIE GEHT´S, WIE STEHT´S?!

Draußen ist es diesig und es dämmert langsam. Im Jagdzimmer des Schlosses Morsbroich verbreitet der Kamin Schummerlicht. „Wir sind hier ja im Museum, da muss das Feuer im Kamin wohl künstlich sein“, bemerkt Cornelia Lönne, Recruiting Events Managerin bei einer Unternehmensberatung, und schmunzelt. Sie kennt das Gebäude gut, sie hat im gegenüberliegenden Trakt, im Spiegelsaal, geheiratet. Hier im Kaminzimmer gab es anschließend einen kleinen Sektempfang. Das war 2001. Nun sitzen wir in der guten Stube Leverkusens, um ein Gespräch fortzusetzen, das eine Woche vorher im Stadtarchiv begann. Dort hatte sich die gebürtige Leverkusenerin auf die Suche nach ihren Ahnen gemacht, um ihren Stammbaum zu vervollständigen. Wir hatten uns dort auf dem Flur getroffen und gerieten in ein Gespräch über Familiengeschichte im Besonderen und Allgemeinen. „Ich gehörte immer schon zu denen, die den Altvorderen Löcher in den Bauch gefragt haben. Ich habe aber auch gespürt, dass meine Großeltern als Angehörige der Kriegsgeneration alle ihre jeweils eigenen Grenzen hatten.“ Die Lebenslinien der Vorfahren, die um die Stadt Leverkusen kreisten: Was für ein Thema. Da es auf dem Flur des Archivs irgendwann zu zugig wurde, haben wir uns dann für ein Gespräch in Morsbroich verabredet.

Stimmengewirr aus dem Kassenraum dringt zu uns herüber. Cornelia Lönne schaut aus dem Fenster auf den Park. Morsbroich habe von kindesbeinen an, eine Rolle für sie gespielt. Ihre Großmutter mütterlicherseits sei nicht nur ein überaus liebenswerter und humorvoller Mensch gewesen, sie hätte sie auch mit auf Fahrradtouren genommen. Von Friedhof zu Friedhof seien sie gefahren. „Ich war damals so sieben, acht Jahre alt und wir haben Blumen auf den Gräbern der Verwandten verteilt.“ Dazu wurde sie von Grabstelle zu Grabstelle mit jeder Menge Familiengeschichten gefüttert. Dabei habe die Oma wohl den Geschichtsspleen der Enkelin genährt. Die Gräber der von Diergardts auf dem Schloss-Friedhof, der heutzutage auf der anderen Seite der Willy-Brandt-Straße liegt, waren oftmals Teil ihrer Tour. „Das war ein verwunschener Ort, der total zugewachsen war. An der rostigen Pforte dort habe ich mir mal die Finger geklemmt. Und ab und an lagen auch dort Blumen auf den Grabplatten.“ Ihre Großmutter habe ihr einen Sinn für Erinnerungskultur mit auf den Lebensweg gegeben. Doch nicht nur das. „Das ging so weit, dass ich nach dem Abitur Geschichte studieren wollte, ich habe mich dann aber doch für das Kaufmännische entschieden. Alles andere schien mir zu unsicher.“

Doch wie verlief die Linie vom Spleen hin zum Geschichtsbewusstsein? „Zuerst waren da Geschichten und Bilder. Meine Großeltern sind irgendwann nach 1933 nach Berlin gegangen. Welcher Ruf hat meinen Großvater da ereilt? Ich habe danach gefragt und keine Antwort bekommen. Beim Blättern in Familienalben fiel mir ein Großonkel mit einem 1A-Hitlerbärtchen auf. War das nur Mode oder Ausdruck seiner Gesinnung? Meiner Oma, mit der ich diese morbiden Touren unternahm, eilte die Familienlegende voraus, in Kriegstagen knapp dem Tod entronnen zu sein. Sie sei durch den Bombenhagel gefahren statt in den nahen Bunker zu gehen. Und das alles nur, um ihre Tochter zu beschützen, die allein zuhause auf sie gewartet hätte. Die Ironie des Schicksals wollte es, dass der Bunker getroffen worden sei und viele Menschen gestorben seien, während sie es unversehrt in ihr Heim in Küppersteg geschafft habe.“ Letzte Geschichte ist ein Wirkungstreffer und ich merke, dass ich anfange zu schlucken. Aber ich habe es selbst erlebt, die Erzählungen der Kriegsgeneration quellen über vor privaten Katastrophen. Und haben die Heimkehrer von der Ostfront nicht zuallererst von Hungersnöten und von der Kälte berichtet? Auf dem Rückzug hätten ausgeweidete Pferde gelegen und sie hätten toten sowjetischen Soldaten den Pelz weggenommen, um sich zu zweit zu wärmen. „Wer will es ihnen verdenken. Ich möchte diese Erinnerungen auch in keinster Weise bezweifeln.“ Cornelia Lönne zuckt mit den Achseln. Aber sie hätte eben auch erlebt, dass diese Generation die Angst vor „Dem Russen“ genährt hätte. Dabei wurde die Frage, wer den Krieg eigentlich angezettelt und wer wen angegriffen hätte, komplett ausgeblendet. Das habe sie damals schon gestört, sie hätte aber den Familienfrieden nicht stören wollen.

„Ich bin nicht bereit, den Deckel über der Geschichte des III. Reichs zuzuschlagen. Wir sind beispielsweise 2008 mit unseren Kindern bewusst in das Konzentrationslager nach Dachau gefahren und mit unserer älteren Tochter sind wir auch an die Verbrennungsöfen gegangen.“ Die Kinder hätten aber auch auf einem Segelurlaub in der Normandie mitbekommen, wie die eigene Familie aufgrund ihrer deutschen Herkunft behandelt worden sei. „Wir saßen dort aufgrund des Wetters drei Tage in Dünkirchen fest. Und wir wurden tatsächlich geschnitten und nicht mehr bedient, als die Franzosen festgestellt hatten, woher wir kamen.“ Solche Ablehnung sei nur schwer zu ertragen, aber sie verfalle deswegen nicht einfach in dumpfe Ressentiments. „Ich wollte nur weg und ich habe meinen Mann gebeten, uns durch den Sturm nach Belgien zu fahren. Mir war klar, ich würde mir die Seele aus dem Leib spucken und so war es.“

Die deutsche Erinnerungskultur fußt auf einem Mantra. Das lautet „Nie wieder“. Cornelia Lönne geht aber einen wesentlichen Schritt weiter, sie will Geschichte verstehen, um die Gegenwart zu verstehen. Sie schießt die Entwicklungslinien der europäischen Konflikte der letzten zwei Jahrhunderte locker aus der Hüfte und schlägt Brücken vom Deutsch-Französischen-Krieg 1870 über Sarajevo und den Ausbruch des 1. Weltkrieg, über die sogenannten Goldenen Zwanziger Jahre bis hin zum Aufstieg der Nationalsozialisten. Geschichte ende nie. „Und 2022 bricht ein Krieg in Europa aus und schon sind die Erinnerungen an den Kalten Krieg wieder da.“

Wir haben uns mittlerweile in den Spiegelsaal begeben. Der Raum erinnert Cornelia Lönne an ihre Hochzeit und sie erzählt beiläufig, dass sie ihren Mann eigentlich schon seit dem 9. Lebensjahr kenne. Jahrzehnte später seien sie sich dann wirklich nähergekommen. Schon lange wohnen sie als Familie im Haus der besagten Großmutter in Küppersteg. „Unser Haus ist unser gemeinsames Projekt, an dem wir bis heute arbeiten. Auch diese Dinge enden eben nie.“ Die Arbeit am Stammbaum sei bisher liegengeblieben und beginne jetzt erst richtig. Ihr Credo dabei laute: Bei allem Verständnis für die Vergangenheit und die individuellen Entscheidungen, die aus der damaligen Situation vielleicht getroffen werden mussten, wolle sie wissen, wie es wirklich gewesen sei.

Das Museum schließt. Und wir drehen gemeinsam noch eine Runde durch den Schlosspark. Vor der Skulptur „Integration“ von Adolf Luther bleiben wir stehen. Cornelia Lönne schaut nach oben in die Hohlspiegel, die dieses Kunstwerk ausmachen. Ihr Gesicht doppelt sich, dreht sich und bewegt sich. Im Hintergrund changiert die Kulisse des barocken Schlosses. „Bleiben Sie so“, bitte ich sie und drücke auf den Auslöser.

Herzlichen Dank, Cornelia Lönne. Vielen Dank für Ihre Zeit.

Text & Foto © Hendrik Neubauer / Lust auf Leverkusen.

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